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Adoptiertensprechstunde für Erwachsene

"Wer hält mich, wenn nichts trägt ? Welcher Vater, welche Mutter, welcher Bruder, welche Schwester hält mich, wenn nichts trägt ? Und sie geben Dir eine Feder und sagen: "Nimm" ! Wer hält mich, wenn nichts trägt ? " (Sophie, 38 Jahre) 

Adoptierte, die erst zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben erfahren, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern sind, bzw., dass sie adoptiert worden sind, erleben diesen Moment und diese "Wahrheit"oft  als einen tiefen Riss in ihrem Leben. Oft haben sie in ihrem bisherigen Leben schon geahnt, dass "irgendetwas" anders ist, konnten dieses Gefühl aber nie wirklich in Worte fassen. Der Vertrauensbruch sitzt tief. Viele Geschichten, die ihnen von ihren scheinbar leiblichen Eltern erzählt wurden, stellen sich nun als unzählige (Not)-Lügen heraus. Gleichzeitig beschleicht sie ein Loyalitätskonflikt zwischen den leiblichen- und Adoptiveltern. Denn so wie jeder Mensch, will auch ein Adoptierter wissen, wo seine Wurzeln sind. Doch dies gestaltet sich unter Umständen sehr schwierig. 

Viele adoptierte Erwachsene bleiben ihr Leben lang traumatisiert, da ihnen nie die Möglichkeit gegeben wurde, auch von Seiten ihrer Adoptiveltern, ihre Wut, ihre Ohnmacht und all die vielen Fragen zu thematisieren und therapeutisch aufzuarbeiten. Nicht jedes Adoptivkind wächst in einem empathischen, verständnis- und liebevollen Umfeld auf. Oft beeinflusst die tiefe seelische Verletzung, die ein Adoptierter/eine Adoptierte in jungen Jahren erfahren hat, sein/ihr gesamtes weiteres Leben. Dies muss nicht so sein, kann sich aber, auch noch viele Jahre später, in anderen Lebenssituationen manifestieren. Adoptierten mangelt es an "Urvertrauen", jene wertvolle und stabile Bindung, die in den ersten Lebensmonaten des Kindes geprägt wird. Durch die verlässliche, liebevolle und kontinuierliche Fürsorge der Eltern, entwickelt sich in dieser Zeit ein tiefes, seelisches Vertrauen in die Welt. 

In meiner -Adoptiertensprechstunde- gebe ich Ihnen den Raum, über Ihre Adoption und all die damit verbundenen, oft widersprüchlichen Gefühle, zu sprechen. Bestimmte Lebensthemen, die bei Ihnen immer wiederkehren und Ihnen Schwierigkeiten bereiten, können wir näher beleuchten, um zu schauen, ob diese ggf. mit ihrem bisherigen Lebensweg und Ihrem "Adoptiertsein" zusammenhängen. Sie erhalten von mir kontinuierliche Hilfestellung, Ihren speziellen Lebensweg zu entschlüsseln, zu akzeptieren und mit ihm Frieden zu schliessen. 

Ziehende Landschaft

„Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum,
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten, von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab unserer Mutter“

(Hilde Domin)

  

Bindungstheorie nach John Bowlby

Aus: "Das Glück und die Trauer", Konzepte der Humanwissenschaften, John Bowlby,2011 und "Bindung und Trauma", Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern, K.H.Brischl, 2009

Die Bindungstheorie fasst Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie und Biindungsforschung zusammen, die unter anderem belegen, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Diese Konzeption wurde von dem britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby, dem schottischen Psychoanalytiker James Robertson und der amerikanisch-kandadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt. 

Gegenstand der Bindungsforschung ist der Aufbau und die Veränderung enger Beziehungen im Laufe des Lebens. Die Bindungstheorie basiert auf einer Sichtweise der frühen Mutter-Kind-Beziehung, die sich auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes konzentriert. Sie wird in den Theorien und Konzepten der Psychoanalyse und der kognitiven Psychologie berücksichtigt, erweitert sowie angewandt und hat einen großen Beitrag zu Psychotherapie sowie zur Entwicklungspsychologie und zur Pädagogik geleistet. 

Grundlagen der Bindungstheorie:

*Bindung* ist die Bezeichnung für eine enge emotionale Beziehung zwischen Menschen. Das Neugeborene entwickelt eine spezielle Beziehung zu seinen Eltern oder anderen relevanten Bezugspersonen. Die Bindung veranlasst das Kleinkind im Falle objektiv vorhandener oder subjektiv erlebter Gefahr(Angst, Bedrohung, Schmerz) Schutz und Beruhigung bei seinen Bezugspersonen zu suchen und zu erhalten. Bezugspersonen sind die Erwachsenen, mit denen das Kind den intensivsten Kontakt in seinen ersten Lebensmonaten hatte. 

Bindungsverhalten verändert sich im Laufe des Lebens. Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist das "ursprüngliche", direkt beobachtbare Bindungs- und Explorationsverhalten im Sinne von Annäherung und Entfernung von Bindungspersonen nicht mehr so offensichtlich. Dennoch hat die Forschung auf Basis der Bindungstheorie Zusammenhänge zwischen frühem Bindungsverhalten und dem Verhalten älterer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener gefunden. Durch die individuellen Unterschiede in der Eltern-Kind-Interaktion in den ersten Lebensjahren werden nach Bowlby die -inner working models- (innere Wirkungs-/Arbeitsmodelle) gebildet. Diese werden im Verlauf der Entwicklung in der Psyche eines Menschen relativ stabil repräsentiert. 

Das- Inner working model- beinhaltet die individuellen frühen Bindungserfahrungen sowie daraus abgeleiteten Erwartungen, die ein Kind gegenüber menschlichen Beziehungen hegt. Diese dienen dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu iinterpretieren und ihr Verhalten vorauszusagen. Nach der Entwicklung im ersten Lebensjahr werden die-inner working models- zunehmend stabiler. 

Wesentlich ist, dass die sich entwickelnden Bindungstypen aus der Eltern-Kind-Beziehung hervorgehen und somit eine zwischenmenschliche Qualität spiegeln, in die das Verhalten beider Seiten einfließt. Dabei ist für die spätere Bindungsqualität die Feinfühligkeit der Bezugspersonen entscheidend. Unter Feinfühligkeit versteht man hier, das situationsangemessene und prompte Reagieren erwachsener Bezugspersonen auf die Äußerungen und Bedürfnisse des Säuglings. Insofern ist das spätere Bindungsverhalten des Kindes weniger Spiegelbild seines Temperaments oder Charakters, sondern primär Ausdruck der erlebten Interaktion mit der Bezugsperson. 

Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bis zur sechsten Lebenswoche kann hierbei die Bindungsperson beinahe beliebig wechseln. Dann entsteht- etwa gleichzeitig mit dem ersten personenbezogenen Lächeln- eine zunehmend festere Bindung zu einer oder mehrerer Personen. 
 

Vierphasenmodell der Bindungsentwicklung nach Bowlby

  1. Vorphase, ca. 6 Wochen
  2. Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6/7. Monat
  3. Eigentliche Bindung: 7/8. bis 24. Monat
  4. Zielkorrigierte Partnerschaft: ab 2/3 Jahren 

Das individuelle Bindungsverhalten eines Neugeborenen entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bindungspersonen. Hierbei bilden die ersten sechs Lebensmonate die Phase *stärkster* Prägung. 
Die Forschung über bestimmte Bindungstypen kam zu folgenden Klassifizierungen. Das Bindungsverhalten ist sehr vielfältig und oft individuell unterschiedlich in der Ausprägung. Heute werden meist vier Bindungsqualitäten bei Kindern genannt. 

Solche Kinder haben eine offene Strategie und verleihen ihren Gefühlen Ausdruck. Verlässt die Bezugsperson den Raum, sind sie traurig und möchten hinterher rennen. Kehrt die Bezugsperson zurück, laufen sie ihr freudig entgegen und umarmen sie freudig. 

 Die Kinder zeigen Pseudounabhängigkeit von der Bezugsperson. Sie zeigen auffälliges Kontakt-Vermeidungsverhalten und beschäftigen sich primär mit Spielzeug im Sinne einer Stress- und Kompensationsstrategie. Sie wirken bei der Trennung von der Bezugsperson unbeeindruckt; sie zeigen ihre Emotionen nicht offen, sondern versuchen jeden Ausdruck zu vermeiden. Die Situation bedeutet für das unsicher-vermeidende Kind jedoch Stress. Hier erfolgt die Regulierung aber nicht über die Bezugsperson. Der Cortisolspiegel bleibt über mehrere Stunden erhöht, das einem erhöhten Stresslevel zuzuordnen ist.  

Diese Kinder verhalten sich widersprüchlich-anhänglich gegenüber der Bezugsperson. Sie wirken bei der Trennung massiv verunsichert, weinen und sind absolut überwältigt vom Trennungsschmerz. Bei der Rückkehr der Bezugsperson klammern sie sich an diese, lassen sich aber dennoch nicht beruhigen. Sie wirken hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und gleichzeitigem Ärger auf die Bezugsperson. 

Desorganisierte Bindung: Hauptmerkmal solcher Kinder sind bizarre Verhaltensweisen wie Erstarren, Im-Kreis-Drehen, Schaukeln und andere stereotype Bewegungen sowie völlige Emotionslosigkeit. Diese Kinder haben keine Verhaltensstrategie in bindungsrelevanten Stresssituationen, um mit der Trennungs- und Wiedervereinigungssituation umzugehen. Die Angst lähmt. Dies ist durch die emotional widersprechende, nicht zu einem einheitlichen Muster integrierbare Bindungserfahrung begründet. Die Bindungsperson bietet teilweise emotionale Sicherheit, teilweise ist sie jedoch auch die Quelle der Angst. (Misshandlung, lebensbedrohende Gewalt. )

Durch die Bindungstheorie konnten langfristige Effekte der frühen Bindungsperson-Kind-Beziehung nachgewiesen werden. Aus der Qualität der Bindung, lassen sich einige zutreffende Vorhersagen ableiten: 

Sicher gebundende Kinder zeigen später adäquates Sozialverhalten im Kindergarten und in der Schule, mehr Phantasie und positive Affekte beim freien Spiel, größere und längere Aufmerksamkeit, höheres Selbstwertgefühl und weniger depressive Symptome. Auch konnten frühe Bindungserfahrungen einen neurophysiologischen Einfluss ausüben. Hierbei konnte ein Einfluss von Bindungserfahrungen auf die Ausbildung der Rezeptoren des Hormons Oxytocin gefunden werden, welches wiederum das Bindungsverhalten beeinflusst.